04.09.2024
Günter Lindig: Der ewige Sattlermeister
1930 - 2024 - Sein letzter Vorhang fiel
1954 war ein geschichtsträchtiges Jahr: In den USA setzte Präsident Dwight D. Eisenhower das Verbot der Rassentrennung an Schulen durch. Rock-n-Roll-Musiker Bill Haley schrieb den Gassenhauer „Rock Around the Clock“. Die deutschen Fussball-Elf begründete das „Wunder von Bern. Und in Rapperswil-Jona bewarb sich ein 24-jähriger Jüngling aus Ostdeutschland beim Circus Knie als Arbeitskraft für alle Fälle.
Patron Fredy Knie sen. war von Günter Lindig sofort überzeugt – und gab dem Bewerber den ersten Arbeitsvertrag. Es sollte eine weitsichtige und höchst erfolgreiche Entscheidung gewesen sein. Als Zeltarbeiter verschaffte sich der fleissige Schaffer sofort Respekt – um nach einigen Jahren seine echte Berufung zu finden. Fredy Knie jun, der bei Lindigs Anstellung acht Jahre alt war, erinnert sich: „Als wir realisierten, dass Günter gelernter Sattler war, setzten wir ihn sofort in diesem Bereich ein. Dies war beim Circus eine Schlüsselrolle“
Mit anderen Worten: Lindig kreierte Geschirre für Pferde und Ponys, aber auch solche in Übergrössen für Elefanten, Kamele, Nashörner oder Nilpferde. Zunächst begleitete er den Circus auf Tournee, später arbeitete er in der Werkstatt in Rapperswil-Jona. Wer mit dem Circus reiste, kam nicht an ihm vorbei. Weggefährten bezeichnen ihn als „echten Künstler“. Fredy Knie jun. ist noch heute beeindruckt vom Erfindergeist und von der Kreativität seines Mitarbeiters. Günter habe nie gesagt: „Das geht nicht“. Für alles habe er eine Lösung gefunden. Damit war er im Circus am perfekten Ort. Wo sonst müssen wilde Tiere massgeschneiderte Ausrüstungen und Textilien haben? Jede von Lindigs Anfertigungen war quasi ein Einzelstück.
Aber nicht nur das handwerkliche Geschick zeichnete den Mann aus. Er war für seine menschliche und humorvolle Art bekannt und beliebt. Fredy Knie jun. erinnert sich: „Wie man es von einem Ostdeutschen erwartete, war Günter zackig und resolut. Aber er war auch eine treue Seele und ein herzensguter Kollege. Auf ihn konnte man sich verlassen.“ Auch Freddys Tochter Géraldine verband eine innige Beziehung zum langjährigen Mitarbeiter: „Er war immer da – und freute sich jedes Mal, wenn wir ihn besuchten“. Als sie ihre Tochter Chanel getauft habe, sei Günter sehr zufrieden gewesen und habe gesagt: „Ein wunderbarer Name für das Scheinwerferlicht in der Manege.“ Mit ihm verliere sie einen engen Wegbegleiter und Freund, so Géraldine: „Und ein Kapitel geht zu Ende. Günter war der letzte Mitarbeiter, der schon unter meinem Grossvater gearbeitet hatte.“
So sehr Lindig seinen deutschen Wurzeln treu blieb, so stark identifizierte er sich mit dem Circus Knie und mit der Stadt Rapperswil-Jona. Unter anderem wurde er zum Ehrenmitglied des Samaritervereins ernannt. Die Liebe seines Lebens, Maria aus Österreich, lernte er im Circus Knie kennen. Auf die Frage, weshalb er sich in der Schweiz einbürgern liess, antwortete er mit einem Augenzwinkern: „Weil ich den Christbaum – wie es allen Bürgern in Rapperswil-Jona zusteht - ebenfalls gratis wollte.“
Von seiner Kreativität und von seinem Fleiss profitierte der Nationalcircus rund sieben Jahrzehnte. In dieser Zeit legte Lindig die Meisterprüfung ab – und bildete drei Lehrtöchter und Lehrlinge aus. Die beste - Andrea Demont – machte er zu seiner Nachfolgerin. Demont blickt in einer Mischung aus Respekt, Dankbarkeit und Freundschaft auf die Zusammenarbeit zurück: „Herr Lindig war streng, aber gerecht und sehr hilfsbereit. Vor allem fand er für jedes Problem eine Lösung.“
Dem Zirkus blieb Lindig über seine Pensionierung treu. Oft schaute er vorbei, immer wieder fragte er in der Werkstatt nach, ob alles gut laufe. Andrea Demont erzählt: „Der Circus war sein Leben. Bis zuletzt, hat er sich erkundigt, wie es uns geht – und an was wir arbeiten. Und er brachte seine Meinung ein.“ Fredy Knie jun. fasst die Verbindung zum ewigen Sattlermeister in grosse Worte: „Er gehörte zu unserer Familie.“
Dies ist viel mehr als eine Floskel. Lindig arbeitete mit vier Generationen der Knies zusammen, bis zuletzt lebte er in einem Haus der Familie an der St. Wendelinstrasse direkt beim Winterquartier. Im Herbst wäre er 94 Jahre alt geworden. Doch sein letzter Vorhang fiel am vergangenen Freitag – dem 23. August. Die Zirkuswelt trauert um einen stillen und akribischen Schaffer und um eine herzensgute Persönlichkeit. Und die Familie Knie hat einen Weggefährten verloren, der eine nicht zu schliessende Lücke hinterlässt: sowohl beruflich als auch menschlich.
Text: Thomas Renggli